Die Strategie der gegenwärtigen Politik lautet „weiter so“ und ist im Kern die Fortschreibung alter Lebenslügen: Deren erste ist die europäische „Finanz- und Wirtschaftsregierung“, also die Weiterführung des gescheiterten Stabilitätspaktes. Selbst ein Sanktionsautomatismus bliebe ein zahnloser Tiger. Ein Beispiel ist die deutsche Schuldenbremse: Ein erheblicher Teil öffentlicher Schulden (Rentenansprüche, Bankenrettungsfonds, etc.) wird hierzulande nicht erfasst; anderswo wird dies nicht anders sein. In Südeuropa steht „europäische Wirtschaftsregierung“ zudem für „teutonisches Spardiktat“. Und ist ein griechisches Mitspracherecht über die deutsche Haushaltspolitik überhaupt vermittelbar? Solche Überlegungen verkennen den Spielraum europäischer Integration, deren Wesen eben vom Nationalstaat zu unterscheiden ist.
Die zweite Lebenslüge lautet „Eurobonds“ und fordert geringere Zinsen für hochverschuldete Länder. Doch waren nicht zu niedrige Zinsen grade eine Ursache für das unkontrollierte Anwachsen der öffentlichen und privaten Schuldenblasen? Eurobonds sind nicht der Königsweg aus der Krise, sondern ein Taschenspielertrick. Ihr Liquiditätsvorteil bleibt klein, während das Länderrisiko nur umverteilt wird. Den Vorteilen stehen zudem Verluste für den rein nationalen Schuldenteil entgegen. Letztlich entscheidend ist aber die Erfahrung, dass geteilte Verantwortung die des Einzelnen verwässert. Über die Missachtung dieses Prinzips ist schon einmal eine Europäische Kommission gestürzt.
Aber bedeutet die Alternative zum „Weiter so“ nicht den Zusammenbruch des Euro, ja gar das Ende der EU? Gegen diese herrschende Panikmache nehmen sich die Äußerungen Philipp Röslers zu Griechenland harmlos aus. Die Märkte haben ja Recht behalten, das Land ist ohne EU-Hilfen zahlungsunfähig. Verzinsung und Rückzahlung der Staatsschulden an ausländische Gläubiger würden über viele Jahre wie Blei an der griechischen Konjunktur kleben und eine ganze Generation von Griechen um ihre Zukunft betrügen. Eine offizielle Pleite und der darauf folgende Neuanfang sollten lieber früher als später kommen, die Europäische Union und der Euro werden es überleben.
Feuerschneise gegen einen Zahlungsausfall Griechenlands
Äußerungen der Bundeskanzlerin, in Griechenland ginge es um den Bestand des Euro und gar der EU unterstellen eine Ansteckungsgefahr. Das ist unverantwortlich, denn Spanien, Portugal und Irland sind keineswegs pleite, und es gilt, diesen Unterschied herauszustellen. Wir brauchen eine „Feuerschneise“ gegen einen Zahlungsausfall Griechenlands.
Finanzmärkte sind Zukunftsmärkte. Maßnahmen, die heute getroffen werden um die langfristige Solidität von Staatsfinanzen zu verbessern, haben unmittelbare Auswirkungen auf die Bonität der Schuldner. Lettland, das durch die Bindung seiner Währung an den Euro 2008 in einer ähnlichen Lage war wie heute Südeuropa, hat gezeigt, dass eine interne Abwertung und eine schnelle Wiederherstellung des Marktvertrauens möglich sind. Zusätzliche Konsolidierungsmaßnahmen sind Teil eins der Feuerschneise.
Teil zwei ist die sofortige Rekapitalisierung der Banken. Sie würde im Fall eines teilweisen Zahlungsausfalls eines oder mehrerer Staaten nicht nur die Ansteckungsgefahr über den Bankensektor verringern, sondern sowohl die Privaten in die Pflicht nehmen als auch Sicherheiten für die öffentliche Hand erwerben. In Ländern ohne ausreichende private oder öffentliche Mittel könnten die bestehenden Rettungsfonds genutzt werden, die somit erstmals Sicherheiten erhielten.
Diese Idee ist nicht neu, auch die Bankenrettung nach der amerikanischen Krise war ja eine Rekapitalisierung. Nun haben die Ökonomen Hau und Lucke erstmals die Kosten eines Südeuropäischen Zahlungsausfalls geschätzt (FAZ, 16.9.2011). Das Ergebnis überrascht nicht: Eine Rekapitalisierung kostet einen Bruchteil der Rettungsschirme, selbst bei Ansteckung Spaniens und Italiens. Sie sollte präventiv und allgemein beschlossen werden. Die Berechnungen schließen zwar nicht die Ausfälle bei Versicherungen und Rettungsfonds mit ein, da eine substanzielle Rekapitalisierung jedoch geeignet wäre, eine Marktpanik zu begrenzen, ist das Ansteckungsszenario nur ein Extremfall.
Schließlich sollte über die kurzfristigen Rettungsmaßnahmen nicht die langfristige Marktarchitektur vergessen werden, um die Wiederholung ungebremster Schuldenakkumulation zu verhindern. So sollten Staatsanleihen kein Geschäftsmodell für Banken sein, doch gelten für sie weiterhin bevorzugte Eigenkapitalregeln. Ihre Abschaffung oder Kappung fordert Daniel Gros (CEPS). Daneben sollte auch die EZB ihre Möglichkeiten für länderspezifische Kreditbremsen ausreizen.
Unheilige Interessensallianz
Die geschilderte Strategie beinhaltet natürlich auch Unwägbarkeiten, eine risikoscheue Gesellschaft ist ihr nicht zuträglich. Aber das Risiko der Staats-Bail-Outs ist schon mittelfristig viel höher. Ginge es darum, Zeit zur Vorbereitung einer kontrollierten Insolvenz zu gewinnen, sähen wir eiligere Konsolidierungsanstrengungen bei den Mitgliedstaaten. Der bisherige Verlauf der Krise deutet stattdessen auf eine unheilige Interessenallianz hin.
Seit Ausbruch der Krise haben die Privaten einen Großteil ihrer Risiken auf die EZB und die öffentliche Hand abwälzen können. Die Politik macht sich dabei zum Zwangsvollstrecker an souveränen Schuldnern. Auch in anderer Hinsicht ist die Bundesregierung schamlos bankenfreundlich: Eine Trennung von Investment- und Geschäftsbanking ist vom Tisch und Deutschland bremst bei der Erhöhung der Eigenkapitalquoten. Das Ausmaß des Einflusses der Banken auf die deutsche Politik lässt die dagegen opponierenden liberalen deutschen Ökonomen wie die Erste Internationale erscheinen.
Die Bankenrettung von 2008 zu wiederholen war 2010 unpopulär; daher kam das – sachlich kaum zu rechtfertigende – Paradigma von der „Eurokrise“ gerade recht, da man so das politische Kapital Europas für einen ähnlichen Zweck beleihen konnte. Präsident Sarkozy war diese Logik nur recht: Mit Großbritannien im Boot hätte es einen vergleichbaren Bail-Out nie gegeben und sein Wahlkampf wäre von der Bankenrettung überschattet worden. Umgekehrt war es der britischen Politik natürlich recht, die Rettung eigener Banken der Eurozone zu überlassen.
Europa darf nicht zur Ideologie verkommen
In naiver Unterschätzung der Situation glaubten auch viele Linke, aus der Krise politisches Kapital schlagen zu können. Dass Einige nun gar von einer „guten“ Krise sprechen, weil sie Chancen für europa- und steuerpolitische Ziele biete, zeigt die Geschmacklosigkeit einer ideologisierten Debatte. Verantwortung für Europa bedeutet zwar auch, neue Wege aufzuzeigen, aber unter den Bedingungen der Kunst des Möglichen. Europa darf nicht von dauerhaftem Konsenswillen abhängig werden, sondern muss ausreichend robust konstruiert sein, um auch unter widrigen Umständen funktionieren zu können. Wer dies ignoriert, spielt mit der EU Vabanque. Wem hingegen Europa wirklich am Herzen liegt, dem geht es um die Erhaltung der gesellschaftlichen Mehrheitsfähigkeit der EU.
Man wolle das „Primat der Politik über die Wirtschaft“ wiederherstellen, wird oft behauptet. Das rechtfertigt ein Verbot von Leerverkäufen, nicht aber das bisherige Management der Schuldenkrise. „As time goes by, the fundamental things apply“ heißt es im Film “Casablanca”. Im Kräftemessen mit den ökonomischen Realitäten hat bisher jede Ideologie den Kürzeren gezogen.